Ende 1998 zogen wir um, vom kleinen Laden am Dorfrand , in die City, ins Zentrum , zwischen Marktplatz und Kirche, umgeben von Banken , Lebensmittelläden , Post etc. "Wenn Sie als Händler was werden wollen, dann müssen Sie ins Zentrum!" Diese weisen Worte fielen auf fruchtbaren Boden. Einige Jahre später siedelten die Hotspots peu a peu in die Außenbezirke, so wie es in anderen Orten auch immer häufiger praktiziert wurde. Die Verödung der Innenstädte wurde zudem auch häufig durch die unseligen Fachmarktzentren beschleunigt.
Trotz und alledem (die Kirche und der Marktplatz blieben), freuten wir uns über ein recht großes Ladenlokal, das unsere Tagträume beflügelte: Lesungen und andere Events im Laden organisieren!
Die feierliche Wiedereröffnung war mit ca 100 geladenen Gästen eine geschmeidige Aussicht auf eine erfolgreiche Zukunft. Drei Musikerinnen boten sich an, mit klassischer Musik das Entree der Gäste zu begleiten. Sie kamen einige Tage vor dem großen Empfang, setzten sich in eine Schaufensterecke und stimmten ihre Instrumente. Ich saß allein inmitten des sonst leeren Raums und ließ die Damen vorspielen. So fühlte ich mich jedenfalls, was mir ein wenig anmaßend bzw unpassend erschien .
Ich ,der von klassischer Musik überhaupt keine Ahnung hat, nicht mal Noten lesen kann , wurde nach einzelnen Stücken gefragt, ob ich besondere Vorlieben (Komponisten etc) habe . "Nein, nein, spielen Sie was Sie möchten ",entgegnete ich. Die Oboistin fragte:" Wie lange sollen wir denn spielen?" "Die ersten Gäste werden um 19 Uhr erwartet", sagte ich. "Ich denke, Sie spielen von 19 bis 21 Uhr."
"Ach", seufzte die Fagottistin, " dürfen wir denn auch zwischendurch ein Glas Wasser trinken?"
O Gott, ich wedelte mit den Armen und lachte ein wenig gequält, während die Damen ernst dreinschauten. Hier spielte keine Jukebox...Ich war so in meinen Plänen verknotet, dass ich wohl nicht den richtigen Ton getroffen hatte. Es war mir eine Lehre...
Die Feierlichkeiten kamen in Gang, Sekt und andere Zutaten lösten die Zungen, und ich schlängelte mich durch das Menschenmeer, um meine Ansprache über die Bühne zu bringen. Ich hatte - für alle Fälle - ein Manuskript erstellt, dass mir die Sicherheit geben sollte, falls ich irgendwie den Faden verliere.
Das Rednerpult wurde freigelegt und ich fummelte den Zettel aus meiner Jackentasche . Da kein Mikro installiert war, bat ich beidhändig sanft um entsprechende Ruhe. Zu meinem Schrecken sah ich plötzlich, dass ich nicht mein Manuskript in Händen hielt, sondern eine plattdeutsche Geschichte, die der Mundartforscher Herbert Ackermann als Highlight des
Abends vortragen sollte.
Ich liebe kurze Reden und vermeide ausschmückende Verzierungen, so dass ich lediglich meine Freude kundtat und den Gästen für Ihr Erscheinen dankte und Ihnen weiterhin einen schönen Abend wünschte.
Das Manuskript ließ ich vorsorglich auf dem Rednerpult liegen...
Herbert Ackermann, , der Jahre später ein monumentales Wörterbuch über die Grefrather Mundart und mannigfache humorvolle Gedichte und Geschichten erfand und auch zelebrierte, begeisterte die Zuhörer, obwohl sie - so erfuhr ich später - kaum einer verstehen konnte...
Vor 2 Wochen ist der Mundartforscher im Alter von 94 Jahren gestorben.
Zu unserer Überraschung war auch ein prominenter Künstler unter den Gästen entdeckt worden. Wir konnten es kaum glauben. Da diskutierte leidenschaftlich ein Malermeister mit LORIOT. Da war der Abend gerettet...
Am nächsten Tag kamen leise Zweifel auf.