Samstag, 8. Januar 2022

 

Wenn der Rezitator erzählt und ein Stuhl zerbricht -

oder: Wie Ringelnatz die Bühne rockte  ( März 1999 )

Anfang des Jahres rief mich ein befreundeter Kulturorganisator an, um mir einen „Geheimtipp“ ans Herz zu legen, „absolut passend für den Buchhandel „ - so wie Du ihn führst“!

Er ist vom linken Niederhein, arbeitet in einer Landesklinik, fährt tagtäglich mit dem Fahrrad durch die Gegend und memoriert pausenlos Ringelnatz – Texte. „Die kann der alle auswendig !“

Hermann – Josef Rogosch .

Ich bedankte mich und nutzte den Kontakt. Der Ringelnatz – Rezitator kam im März zu uns. Ein stattlicher Kerl, der im seemännischen Outfit erschien , und – wie ich schnell erfuhr – selbst schon jahrelang zur See gefahren war.

Der freundliche Gast war allerdings recht nervös (Lampenfieber) so wie ich auch. Ein „herrschaftlicher“ großer Stuhl (Erbstück) und ein kleiner Tisch davor als Bühnenausstattung ließen viel Platz zum Agieren. Rogosch startete mit Gedichten und Kurzgeschichten , die er tatsächlich auswendig zelebrierte, dann jedoch in Stocken kam und ab und an das Manuskript bemühte. Der Pendelgang zwischen freiem Spiel und Ablesen des Textes ist wahrlich ein schwieriger Akt, den er jedoch zu meistern verstand. Pause -

Im Hinterzimmer setzte ich mich zum Vortragskünstler, bot ihm ein Glas Rotwein an und parlierte ein wenig mit scheuem Blick in den Saal, ob auch alle Gäste beisammen blieben...

Er schenkte sich ein weiteres Glas ein , und seine Gesichtszüge entspannten sich zusehends. Alles war gut...

Rogosch back to the stage. Er setzt sich in den Vortragsstuhl und nimmt sofort Fahrt auf . Drastische Episoden las er mit Inbrunst vor, gestikulierte ,deklamierte und schwang sich immer lebhafter in die Texte ein. Plötzlich knarzte es im Gebälk, der Stuhl bog sich nach vorn und kreisend nach hinten, um dann vollends zusammenzubrechen. Schock bei allen Beteiligten, doch der Vortragskünstler hatte sich elegant abgerollt. Er lachte, als wenn es ein eingebauter Gag gewesen wäre. Befreiender Applaus und Gewieher der Gäste.

Ohne Stuhl, ohne auch nur einen Blick auf das Manuskript zu werfen, lief der Künstler danach zur Hochform auf: Er torkelte , schrie und schimpfte , stampfte über die Bretter getreu dem Motto des Abends:“ Heiß, frei, besoffen, fromm und scharf „ .

Der Sturz, der Wein, wer auch immer der Auslöser war, vielleicht auch die Begeisterung der lachenden und klatschenden Zuschauer , es wurde zu einem intensiven Ringelnatz / Rogosch – Event!



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